Technologie | Fertigung BMW Vario Koffer – Next Level

In Sachen Funktionalität, Komfort und Design setzt BMW Motorrad mit dem neuen Vario Gepäcksystem völlig neue Maßstäbe im Bereich der Kunststoffkoffer. Als Entwicklungs- und Fertigungspartner bringt Touratech die gebündelte Kompetenz aus über 30 Jahren Innovationsführerschaft im Motorradzubehörsegment ein.
Text: Andreas Reimar Fotos: Katja Wickert
Aluminium und Edelstahl, das sind sicher die beiden Materialien, mit denen man Touratech spontan identifiziert. Doch so einfach ist die Sache nicht – und das war sie auch nie. Denn Touratech besaß schon immer höchste Kompetenz auch in der Kunststoffverarbeitung. Nicht nur kleinere Elemente wie die ikonischen Ecken der ZEGA Koffer stammen aus hauseigener Fertigung, auch prestigeträchtige Produkte wie die legendären Desierto Verkleidungen sind originäre Touratech Parts von der Entwicklung bis zur Fertigung.
Empfindliche Oberflächen erfordern höchste Sorgfalt – hier die Anbringung der Aluminiumblenden in der Vormontage.
Nun hat Touratech den Bereich der Kunststofffertigung auf ein neues Level gehoben. Allerdings vorerst nicht für Produkte, die unter eigenem Label vertrieben werden, sondern als Entwicklungs- und Fertigungspartner für BMW Motorrad. Eine enge Partnerschaft zwischen den beiden Unternehmen besteht bereits seit 2001, als Touratech erstmals einen Entwicklungsauftrag für BMW übernahm. Seit 2004 ist Touratech OEM-Lieferant für den Münchener Premiumhersteller. Edelstahlkofferträger, Sturzbügel sowie Aluminiumkoffer für das Original-Zubehörprogramm von BMW werden in Niedereschach gefertigt.
Da ist es kein Wunder, dass Touratech in der engeren Auswahl war, als BMW die Fertigung des revolutionären neuen Vario Gepäcksystems ausschrieb.
Innovative Lösungen für ein Gepäcksystem der nächsten Generation
Mit herkömmlichen Kunststoffkoffern hat das Vario Gepäcksystem bis auf den Werkstoff nur wenig gemein. Neben den extrem hohen Qualitätsanforderungen seitens BMW galt es, zahlreiche technologische Herausforderungen zu meistern. So verfügt das Vario Gepäcksystem über eine Innenbeleuchtung, Funkfernbedienung für den Schließmechanismus mittels Fahrzeugschlüssel sowie – als absolute Weltneuheit – eine stufenlose Volumenregulierung.
Wie konnte sich Touratech diesen anspruchsvollen Auftrag sichern? »BMW Motorrad hat für das neue Vario Gepäcksystem vor etwa drei Jahren einen Konzeptwettbewerb ausgeschrieben«, berichtet Cliff Vizer, Head of R&D bei Touratech. Und dabei ging es tatsächlich erst einmal um die Entwicklung des Systems, nicht um die Herstellung eines fertigkonstruierten Produkts. »BMW gab lediglich die Schnittstellen zum Fahrzeug vor, übergab uns ein Lastenheft, in dem alle Anforderung und Funktionen haarklein aufgelistet waren, und stellte die Designoberflächen in Form von Strak-Daten zur Verfügung«, erläutert Cliff. Strak bildet die Schnittstelle zwischen Design und Konstruktion und liefert eine geometrische Darstellung aller für den Kunden sichtbaren Oberflächen.
Tüftlergeist und Professionalität
Auf dieser Grundlage machte sich das Team um Cliff Vizer an die Arbeit. Zahlreiche kniffelige Aufgaben galt es zu lösen. Wie sollte die stufenlose Volumenregulierung der Seitenkoffer funktionieren – ein bislang noch nie dagewesenes Feature im Bereich des Motorradgepäcks? Die Touratech Entwickler realisierten ein System das über ein Zahnriemensystem synchron angetrieben wird. Nachdem diese präzise arbeitende, robuste – und patentierte – Konstruktion ausgereift war, galt es, adäquate Lösungen für die Beleuchtung, den elektronischen Schließmechanismus und die elektrischen Schnittstellen zu finden. »Bei einem Großserienprodukt reicht es nicht, dass du eine geniale Lösung für eine Problemstellung findest«, erläutert Cliff die Herausforderung für die Entwickler. »Deine Konstruktion muss sich auch in der Serie fertigen lassen, sie muss montierbar sein – und wirtschaftlich«.
In enger Kooperation mit der Entwicklungsabteilung definierte das OEM-Team von Touratech CSO Silke Winterer mit der Key Account Managerin Franziska Winterhalder die betriebswirtschaftlichen Rahmenbedingungen des komplexen Projekts.
Bei BMW Motorrad zeigte man sich sehr zufrieden mit den Ergebnissen, und der Auftrag ging nach Niedereschach. Doch von der Serienproduktion waren die neuen Vario Koffer zu diesem Zeitpunkt noch immer weit entfernt.
Der Schritt in die Serie
Nächster Meilenstein nach der Freigabe des Datensatzes war die Industrialisierung der Konstruktion. Die Formen für die Spritzgussteile mussten hergestellt werden, wobei die drei Großbauteile Boden, Deckel und Mantel besonders anspruchsvoll sind, und zahlreiche Vorrichtungen für die Montagelinie galt es anzufertigen.
Als endlich die ersten Koffer-Prototypen fertiggestellt waren, folgte ein umfangreicher Testprozess, um sicherzustellen, dass die Gepäckstücke auch die hohen Anforderungen, die BMW – und natürlich auch die Kunden – an ein rund 1.600 Euro teures Gepäcksystem stellen, erfüllen. Die UV-Beständigkeit wird gründlichst unter die Lupe genommen und die Dauerhaltbarkeit wird in aufwendigen Simulationen untersucht. Dazu werden die Koffer auf einem Shaker, der Vibrationen und Erschütterungen wie im Fahrbetrieb nachbildet, malträtiert, sie werden extremen Temperaturschwankungen ausgesetzt und am Fahrzeug in Situationen gebracht, die sie im Alltag wahrscheinlich nie erleben werden. Denn wer macht mit seiner beladenen GS schon einen Stoppie? Egal – was zählt, ist höchste Qualität, und die hat BMW den von Touratech zur Serienreife entwickelten Koffern schließlich auch attestiert.
Im Teilelager werden die Komponenten bevorratet (oben), die im Warenträger (unten) an die Montagelinie gebracht werden.
Bereits während der laufenden Tests haben die Touratech Techniker das Konzept für die Montagelinie in enger Abstimmung mit den Experten aus München in die Praxis umgesetzt. Natürlich will BMW sichergehen, dass in der Serienfertigung stets die geforderte Stückzahl produziert wird, weshalb die Prozesse transparent und bis ins Detail durchorganisiert sein müssen.
Interview mit Silke Winter, CSO-OEM
Welche Bedeutung hat die OEM-Fertigung für Touratech?
Unsere Fertigung profitiert mehrfach von OEM-Aufträgen. Diese gewährleisten eine kontinuierliche Maschinenauslastung und sichern somit Arbeitsplätze. Gleichzeitig muss Touratech aufgrund neuer Bauteilgeometrien und Anforderungen der Kunden in neue Maschinen und Anlagen investieren. Dies schafft eine Win-Win-Situation, da durch die Einführung neuer Technologien auch unsere Eigenmarke profitiert.
Welche Werte zeichnen die Zusammenarbeit mit BMW Motorrad aus?
BMW und Touratech pflegen eine Kunden-Lieferantenbeziehung, die weit über das übliche Maß hinausgeht. Wir arbeiten seit über 20 Jahren als Entwicklungs- und Produktionspartner mit BMW zusammen. Vertrauen und Wertschätzung in die Arbeit und Leistung des jeweils anderen prägen diese Zusammenarbeit.
Worin bestanden die größten Herausforderungen beim Aufbau der Fertigung für das BMW Vario Gepäcksystem?
Erstmals in der bald 35-jährigen Firmengeschichte fertigt Touratech ein Kunststoffkoffer-System. Hierzu musste eine komplett neue Fertigungslinie mit hochmodernen Arbeitsplätzen auf die Beine gestellt werden. Hausintern haben wir eine eigene Softwareapplikation entwickelt, die an jedem Arbeitsplatz installiert wurde, um die Mitarbeiter bis ins kleinste Detail durch jeden Arbeitsschritt zu führen. Um die hohen Qualitätsanforderungen von BMW Motorrad zu erfüllen, haben wir eine Werkerselbstprüfung sowie eine Sicherheitsdokumentation integriert.
Inwiefern profitierte Touratech bei der Akquise dieses Auftrags davon, seit 2018 Teil der Happich Gruppe zu sein?
Unser Schwesterunternehmen Happich Herrstein ist Spezialist rund um die Kunststofffertigung. Diese Expertise war sicherlich mit ausschlaggebend, den Auftrag erhalten zu haben. Bereits von Beginn an haben die Kollegen von Happich Herrstein mit ihrem Know-how und ihrem Fachwissen sehr stark unterstützt.
Modernste automatisierte Anlagen wie z.B. unsere End-of- Line-Prüfung wurden von unserer Schwesterfirma Moldes Epila SA in Spanien für uns konstruiert und gebaut. Auch die Konstruktion und Bau der Montagetische und Bestückungswägen lagen in der Hand von Moldes Epila SA.
Können die in der Kunststoffkofferfertigung eingeführten Prozesse Vorbild für andere Bereiche der Touratech Fertigung sein?
Die Fertigung des Vario Gepäcksystems repräsentiert den aktuellsten Industriestandard. Sowohl mit der Arbeitsschrittführung, Qualitätsprüfung und Dokumentation über unsere eigene Softwareapplikation als auch mit den Anforderungen an modernste ergonomische Arbeitsplätze haben wir ein ganz klares Zeichen in Richtung Zukunft gesetzt.
Das Partnerunternehmen Moldes Epila MEI, wie Touratech Teil der Happich-Gruppe, hat die Vorrichtungen für die Montagelinie entwickelt.
Zuverlässige Partner
Um das Risiko von Produktionsausfällen zu streuen, hat Touratech gleich drei hochspezialisierte Spritzgussunternehmen mit der Fertigung der drei Hauptkomponenten Boden, Deckel und Mantel beauftragt. Bei der Auswahl der Zulieferer spielt auch gewachsenes Vertrauen eine wichtige Rolle. Teilweise sind die Hersteller der Zulieferteile Touratech seit mehr als 20 Jahren geschäftlich verbunden. Und noch etwas: »Alle Kunststoffteile werden in einem Umkreis von nicht mehr als 300 Kilometern um unseren Standort hergestellt«, zeigt sich Silke Winterer zufrieden. »Das sind richtig kurze Wege, die uns Liefersicherheit geben.«
Höchste Anforderungen bereits in der Vormontage
Hochempfindliche Oberflächen wie etwa die Aluminiumblenden verlangen nach Prozessen, die Beschädigungen an den Komponenten konsequent vermeiden. Vor diesem Hintergrund sind kreative Ansätze gefragt. Ein Beispiel: Der Kleber, der die Alublenden hält, erfordert eine gewisse Anpressdauer. Doch wie den nötigen Druck aufbauen, ohne Schäden am edlen Finish zu riskieren? Die Lösung brachte ein Vakuum-Tisch. Auf diesen wird der Kofferdeckel mit der frisch aufgesetzten Blende gelegt. Darüber kommt ein luftdichtes Kautschuktuch. Nun wird von unten ein Vakuum angelegt, so dass der Luftdruck das Tuch gleichmäßig und schonend auf das Werkstück drückt, bis der Kleber ausgehärtet ist.
Das Touratech Werkerführungssystem
Um die extrem hohen Qualitätsstandards in der Kunststoffkofferfertigung zu gewährleisten, hat Touratech ein hochmodernes Werkerführungssystem etabliert. In diesem System sind alle Schritte des Montageprozesses hinterlegt. Zudem ist jeder Koffer mit einer RFID-Karte ausgestattet, die ihn vom Anfang bis zum Ende der Herstellung durch alle Schritte begleitet und eindeutig identifizierbar macht.
Will ein Werker mit der Montage eines Koffers beginnen, bucht er sich mit seinem persönlichen Chip ein, das System führt ihn dann durch alle Arbeitsgänge. Um die Einarbeitung zu erleichtern, können auf einem kleinen Bildschirm direkt am Arbeitsplatz erläuternde Grafiken oder Videos zu jedem Arbeitsschritt abgerufen werden.
Erfahrene Werker können mehrere Montagearbeitsschritte auf einmal buchen, Qualitätsarbeitsschritte müssen grundsätzlich extra gebucht werden. Das Gleiche gilt für Schraubarbeitsschritte, die jeweils einzeln mit dem persönlichen Chip bestätigt werden müssen. Der Clou hierbei: Das Werkzeug, beispielsweise ein Schrauber, wird automatisch in Sachen Drehmoment und Umdrehungsanzahl auf den Arbeitsschritt eingestellt. Tritt ein Problem auf, kann dies direkt an die Arbeitsvorbereitung oder die Schichtleitung gemeldet werden. Die Verantwortlichen erhalten in Echtzeit eine Meldung auf ihre Smartwatch und leisten umgehend Abhilfe. Erst wenn ein Schritt komplett und korrekt abgeschlossen ist, springt das System zum nächsten Arbeitsgang. Hat der Koffer die Endmontage durchlaufen, wird das während des Prozesses gesammelte Datenpaket an die End-of-Line-Kontrolle übergeben. Dort wird automatisch ausgewertet, ob alle Vorgaben eingehalten wurden.
Hightech-Fertigung für ein Premium-Produkt
Selbstverständlich muss das Qualitätsniveau der gesamten Fertigung auf einem konstant hohen Niveau liegen, jeder einzelne Koffer muss strenge Vorgaben konsequent einhalten. Um diesen anspruchsvollen Anforderungen gerecht zu werden, hat Touratech ein aufwendiges Qualitätssicherungssystem eingeführt. Wir treffen Marcel Scheuber an der Produktionslinie. Marcel ist seit 2014 bei Touratech und springt auch immer mal wieder als Schichtleiter ein. »Jeder Arbeitsschritt wird automatisiert dokumentiert, so dass die Herstellung eines Vario Koffers vom ersten Arbeitsschritt an völlig transparent ist«, erläutert Marcel. Hinzukommt ein Höchstmaß an Prozesssicherheit. Marcel fährt fort: »Bei kritischen Schraubverbindungen wird nicht nur auf ein vorgegebenes Drehmoment geachtet, das Schraubwerkzeug zählt auch automatisch, wie viele Umdrehungen erfolgt sind, bis die Schraube das vorgeschriebene Drehmoment erreicht.« Nur so kann gewährleistet werden, dass die Schraube auch in der exakt richtigen Position mit dem korrekten Anzugsmoment platziert wurde. Trotz solcher aufwendigen Vorkehrungen wird die Qualität engmaschig überwacht. »Wir beginnen mit unseren Prüfungen bereits sehr früh im Herstellungsprozess, um Fehler rechtzeitig zu erkennen und Ausschuss zu vermeiden«, erläutert Cliff Vizer.
Werkerführungssytem für höchste Prozesssicherheit
Erfindungsreichtum und Kreativität sind Faktoren, die untrennbar zur Identität von Touratech gehören, mindestens genauso wichtig für die konstant hohe Qualität, die BMW und die Endkunden einfordern, ist jedoch ein außergewöhnliches Maß an Professionalität in der Großserie.
Hierzu implementierte Touratech einen hochgradig standardisierten und transparenten Fertigungsprozess. Statt an einem klassischen Fließband werden die Koffer nach der Vormontage von ein bis zwei Mitarbeitern schrittweise komplett aufgebaut. »One Piece Flow« nennt man diesen Ansatz, den Touratech mit einem hochmodernen Werkerführungssystem (siehe Kasten) für höchste Prozesssicherheit flankiert.
Robotergestützte Qualitätssicherung
Ist der neue Vario Koffer schließlich komplett aufgebaut, steht noch die sogenannte End-of-Line-Prüfung oder Schlusskontrolle an. Hier hilft Kollege Roboter. Der unbestechliche Androide checkt sämtliche Funktionen des Koffers und dokumentiert das Ergebnis.
Jetzt muss der Vario Koffer nur noch sorgfältig verpackt werden, um unbeschadet bei seinem neuen Besitzer anzukommen – und diesen viele Jahre lang auf kleinen und großen Touren zu begleiten. Es muss schließlich nicht immer Aluminium sein.
Die End-of-Line-Kontrolle (EOL)
Die End-of-Line-Kontrolle arbeitet nahtlos mit dem Werkerführungssystem zusammen. Jeder einzelne Koffer durchläuft an dieser finalen Station einen aufwendigen Prüfprozess. Zunächst werden die während jedes einzelnen Montageschritts erhobenen Daten ausgewertet, hierzu zählen beispielsweise die Drehmomente für Schraubverbindungen. Sind alle Werte im Soll-Bereich, testet ein Roboter alle Funktionen des Vario Koffers. Auch an dieser wichtigen Stelle im Fertigungsprozess setzt Touratech auf fortschrittlichste Technologien. Das Touratech Schwesterunternehmen Moldes Epila aus dem spanischen Saragossa hat eigens einen Roboter konstruiert, der mit höchster Wiederholgenauigkeit alle Funktionen überprüft. Mit seinem Arm und zahlreichen Analysetools checkt der künstliche Kollege sämtliche Funktionen des Koffers – mechanische wie elektrische – in nicht einmal 90 Sekunden durch. Zum Schluss werden vollautomatisch noch ein paar Bilder geschossen, um den Zustand am Ende der Prüfung zu dokumentieren.